6. Kapitel Filzmäntel
Dr. phil. Veronika Gervers t, Royal Ontario Museum, Toronto
Mäntel zeigen von allen Kleidungsstücken aus Filz die grösste Eigenständigkeit, sowohl was die Vielfalt der Form als auch die Dekoration anbelangt. In Ländern mit extremem Klima gewähren sie als wichtige Überbekleidung ihren Trägern Schutz vor Hitze und Kälte. Unzählige Varianten von Filzjacken und Filzmänteln haben bis ins zwanzigste Jahrhundert überlebt, obwohl die Erzeugung von Filz eindeutig zurückgeht.
   Zusätzlich zu ihrer Verwendbarkeit repräsentieren Kleidungsstücke aus Filz oft den Rang und die soziale Stellung ihrer Besitzer und werden mit grosser Würde und Stolz getragen. Diese Bedeutung trug zur Erhaltung dieser Kleidungsstücke bei.
   Künstlerische Darstellungen und schriftliche Dokumente aus der Zeit des achämenidischen und persischen Reichs bezeugen, dass Mäntel aus Filz schon über sehr lange Zeit in West- und Zentralasien grosse symbolische Bedeutung genossen haben; diese Tradition ist jedoch vermutlich noch viel älter. Mäntel aus Filz und aus gewebten Stoffen wurden von Königen, Satrapen, Priestern und hochrangigen Würdenträgern des persischen Hofs getragen. Steinreliefs von Apadana in Persepolis zeigen Gesandtschaften, die aus allen Provinzen des Reichs zusammenkommen und Mäntel als besondere Geschenke für Xerxes (486-465 v. Chr.) mitbringen. Nichtsdestoweniger sind die Überbringer dieser Geschenke niemals selbst in solch prunkvollen Gewändern zu sehen. Daher ist anzunehmen, dass es den Mitgliedern der Gesandtschaften verboten war, solch bedeutende Kleidung zu tragen, zumindest in Anwesenheit ihrer Monarchen.
   Die Sitte, Filzmäntel zu tragen, und diese bei Staatsanlässen hohen Persönlichkeiten als Geschenk zu überreichen, hat sich bis in die nachfolgenden Jahrhunderte erhalten. Die Ehrengewänder an den mittelalterlichen arabischen Höfen dürften wohl auch dieser besonderen Tradition entspringen. Das Präsentieren der Kaftane im «Kaftan-Geschenkraum» am Hofe der osmanischen Sultane und der Emire von Buchara und Chiva, sowie die Gaben kostbarer Mäntel an hochstehende Gäste und ihre Begleitung, bezeugen die Beständigkeit dieses alten Brauches.
      Trotz ihrer relativ schlichten Erscheinung können auch Filzmäntel mit diesen Traditionen in Zusammenhang gebracht werden. Im Iran, zum Beispiel, wo die meisten Filzgewänder aus Schafwolle hergestellt werden - heute nützliche Kleidung der Landbevölkerung - sind die Filzmäntel der Qashqä'i-Oberhäupter (aus Kamel- oder feinem Ziegenhaar) mit Stolz getragene Statussymbole. Ihre Besitzer würden sich niemals von ihnen trennen, unter welchen Umständen auch immer. Die Bedeutung dieser prächtig bestickten weissen Filzmäntel im östlichen Iran und besonders in Afghanistan ist immer noch wichtiger als ihr praktischer Aspekt (Abb. 26, 27). Gemäss der Besonderheit der Filztechnik müssen Jacken und Mäntel nicht zugeschnitten und zusammengenäht werden wie Kleidungsstücke aus gewebtem Stoff oder Pelz, sondern entstehen in einem Stück, wie aus einem Guss. Nähen ist bei dieser Herstellungstechnik nicht erforderlich; viele Kleidungsstücke werden ohne jegliche Verwendung von Faden oder Nadel angefertigt. Trotzdem gibt es grundlegende Herstellungsprinzipien, die sich mit jenen von Leder und Webstoffen vergleichen lassen und dadurch besser verstanden werden können. Auf den folgenden Seiten wird die Gestaltung von Filzmänteln im Lichte dieser alten Traditionen erörtert.
Mantel
Abb. 26: Bestickter Filzmantel aus Afghanistan, erworben in Kabul von der Dritten Dänischen Zentralasienexpedition.


Leseprobe aus:
"Die Kunst des Filzens"
Mary E. Burkett, 1997, 111 Seiten
Standardwerk für archälogisch, ethnologisch und historisch
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